Sonntag, 9. April 2023

Ich, der Pullover

Ingeborg

Diesen Winter wurde ich wirklich gebraucht. Das war nicht immer so. 

Lange Zeit habe ich in einem dunklen Fach gelegen zusammen mit anderen Stricksachen, von denen einige mir vorgezogen wurden. Wenn so ein Stück entnommen wurde, musste ich manchmal lange warten, bis es zu mir zurückgewandert war. Es roch dann nach Seife, als ob es frisch gewaschen worden war. Ich war eifersüchtig. Schließlich war ich noch ganz neu und duftete viel besser als alles andere hier im Schrank.

Ingeborg hatte mich zusammen mit einem schwarz-weiß gemusterten Rock gekauft. Der Rock bestand aus einem glänzenden Material. Er fühlte sich glatt an. Schwarz passte wohl dazu. Aber meine matte wollige Oberfläche gefiel mir nicht so recht zu diesem Kleidungsstück. Vielleicht musste ich deshalb so lange im Schrank ausharren.

Jedenfalls, eines Tages holte Ingeborg mich hervor. Ich war ganz überrascht, mich so plötzlich im Hellen zu befinden. So beleuchtet machte ich mir Gedanken über mein Aussehen. War ich noch so perfekt wie beim Einkauf? Nein. Mit Schrecken entdeckte ich eine Falte, die quer über das Vorderteil lief. Ingeborg schien das nicht zu stören. Sie kombinierte mich nicht mit dem Rock, sondern mit einer schwarz-grauen Hose. Vor dem Spiegel hielt sie inne. Dann zog sie mich wieder aus. Oh, sollte ich etwa wieder zurück in den Schrank? Nein. Sie breitete mich auf einem großen Bügelbrett aus, legte ein leicht angefeuchtetes Tuch über mich und setzte ein Bügeleisen auf den Kniff. Ich fürchtete die Hitze. Aber durch das Tuch fühlte sich das Eisen wohlig warm an. Danach zog Ingeborg mich wieder an. Ja, so gefiel ich mir. Ich sah aus wie neu. Und Ingeborg trug mich nicht nur an dem Tag, sondern an vielen folgenden. Endlich lernte ich die Welt kennen! Zunächst das Haus, in dem Ingeborg wohnt, dann den Garten. Dort tat mir die Luft gut. Ich hörte die Vögel zwitschern, bestaunte das Grün um mich herum.

Schlimm war es, als sie eines Tages Fleisch anbriet. Diese Gerüche! Sie blieben den ganzen Tag an mir haften. Ich konnte mich nicht mehr riechen. Aber auch Ingeborg war das zu viel. Sie steckte mich in eine Schüssel voller Seifenwasser. Ich kannte den Geruch. Mich ereilte dasselbe Schicksal wie die anderen Sachen in ihrem Schrank.

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